Seit seiner Erfindung vor über einem Jahrhundert war Kunststoff als Material ein Teil verschiedener Revolutionen im Design, der Kunst und sogar der Gesellschaft. Die Möglichkeiten von Kunststoffen waren (und sind vielleicht immer noch) endlos; sie können jede Form annehmen, flexibel oder hart sein und sich über das gesamte Spektrum von Farbe, Opazität und Oberflächenstruktur erstrecken. Somit wurden synthetische Substanzen sowohl ein Symptom als auch ein Symbol der Massenkultur und gaben der ‘Plastikzeit’ Geburt. Die Welt der Kunst war kein Fremder für den radikalen Wandel, den dieses Wundermaterial mit sich brachte. Es wurde zum Medium der Innovation für Künstler und zu einem entscheidenden Rohmaterial für künstlerische Arbeiten im 20. und 21. Jahrhundert. Von einem Symbol des Fortschritts und der Moderne bis hin zu einer Umweltbedrohung – wie sieht die Reise von Kunststoff durch die Linse der bildenden Kunst aus?
Die renommierte Ausstellungsstätte für moderne und zeitgenössische Kunst in Europa, die Schirn Kunsthalle Frankfurt, präsentiert “Plastic World”, eine Ausstellung, die der Verbreitung von Kunststoff in der bildenden Kunst gewidmet ist. Mit fast 100 Kunstwerken von über 50 Künstlern, die auf vielfältige Weise mit Kunststoff arbeiten, läuft die Kunstausstellung vom 22. Juni bis 1. Oktober 2023. Durch die Semantik der Kunst verdeutlicht die Ausstellung, wie Kunststoff als vielschichtiges Material von einer beispiellosen Innovation zu einem Umweltfeind: Kunststoffmüll, geworden ist. Die Ausstellung wird in sieben thematische Bereiche in der Architektur von raumlaborberlin unterteilt. STIR gibt Einblick in einige der ausgestellten Werke.
Die Kultur des Konsums faszinierte viele Künstler, wie Claes Oldenburg, der Waschbecken, Eisbeutel und Lichtschalter aus Vinyl konstruierte. Der schwedische Multimedia-Künstler Öyvind Fahlströms hingegen persiflierte die Werbelogos auf verspielte und provokante Weise. In der damals von Männern dominierten Kunstwelt durchdrang der Blick auf den weiblichen Körper, geformt nach eigenen Wünschen, die Szene. Frauenkünstlerinnen wie Nicola L., Kiki Kogelnik, Niki de Saint Phalle und Lourdes Castro begannen verstärkt mit der Formgebung des Körpers im Umfeld der Pop Art.
Industriematerialien eroberten bald einen breiten Bereich von Künstlern. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erforschten Kreative, die mit dem italienischen Arte Povera verbunden waren, die Beziehung zwischen Natur und Künstlichkeit. Künstler wie Gino Marotta und Piero Gilardi trotzen den traditionellen Konzepten einer mimetischen Darstellung der Natur. Auch der deutsche Künstler Otto Piene vermischte Technologie und Natur. In einer begehbaren Umgebung von etwa 160 Quadratmetern kann man eine neue Ausgabe von Pienes Anemonen sehen: Ein Luftaquarium. Die Installation besteht aus massiven aufblasbaren und transparenten Seeanemonen sowie anderen Meeresbewohnern, die auf die Ambivalenz von Kunststoff als Material und die Verschmutzung der Ozeane durch (Mikro-)Plastik hinweisen.
Die Ausstellung präsentiert auch immersive Installationen wie die von Pascale Marthine Tayou und Pınar Yoldaş. Anlässlich der Ausstellung “Plastic World” präsentiert die Schirn Kunsthalle Frankfurt das neue digitale Bildungsformat SCHIRN 3D PARCOURS. Der kostenlose Service ermöglicht es den Nutzern, sich in unabhängigen virtuellen Räumen zu bewegen und die vielfältige Materialgeschichte des Plastiks in der Kunst sowie den Wandel seiner gesellschaftlichen Bewertung zu erleben. Dr. Sebastian Baden, der Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, äußert sich über die Zielsetzungen der umfassenden Ausstellung: “Diese Geschichte des Plastikzeitalters zeugt von einer Freude an Innovation und Kreativität. Aus ökologischer Sicht entwickelt Kunststoff jedoch derzeit eine besondere Dringlichkeit; er ist immer noch allgegenwärtig in der heutigen Massenkultur. Unsere Ausstellung verweist über rein ästhetische und formale Aspekte hinaus. Sie lädt vielmehr zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser prägenden Materialkultur ein.”