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Friday, November 22, 2024

Willkommen in Frankfurt, Heimat von Eintracht: Deutsch, Europa, global… und fußballverrückt

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Es ist sechs Uhr im Frankfurter Bahnhofsviertel und der Arbeitstag ist vorbei. An einem mit Graffiti besprühten Kiosk treffen sich Alex und Jakob auf einen Drink. Jakob, der einen ordentlich gebügelten Anzug trägt, arbeitet in einer Bank. Alex, in Shorts, Turnschuhen und einem Fußball-T-Shirt, ist Installateur. “Gas, Wasser und Scheiße”, erklärt er. Weder Alex noch Jakob werden am Mittwoch arbeiten. Sie werden in Sevilla sein und Eintracht Frankfurt im Europa-League-Finale gegen Rangers sehen. Wie alle in dieser Stadt sind sie bereits nervös.

Hinter ihnen ist die Wand mit Stickern tapeziert, die meisten davon im Eintracht-Design. “Eine Stadt, Ein Verein” steht auf einem davon. Eintracht ist überall in dieser Stadt präsent. Auf den Stickern, in den Anzeigen, sogar auf der Dose des lokalen Apfelweins, den Jakob trinkt. Jeder in dieser Stadt – die Banker, die Mechaniker, die Junkies, die auf den Straßenecken schlafen – ist Eintracht-Fan. Frankfurt ist eher wie mehrere Städte, die in einem ungewöhnlich kleinen Raum gepackt sind. Weniger als eine Million Menschen leben hier, und doch ist es fast so vielschichtig wie London, Paris oder New York. Es ist, wie es heißt, “die kleinste Metropole der Welt”.

Das Frankfurter Bahnhofsviertel, in dem Junkies und Hipster zwischen den Spelunken, Bordellen und indischen Supermärkten taumeln, ist beispielsweise berüchtigt. Im Osten überragt es ein vertrauteres Frankfurt, ein kleines, aber beeindruckendes Band von Wolkenkratzern, das daran erinnert, dass diese Stadt das Finanzzentrum Kontinentaleuropas ist. Zur Linken Deutschlands größte Geldinstitute. Zur Rechten das ehemalige Hauptquartier der Europäischen Zentralbank (EZB). Dahinter befindet sich die Altstadt, die größtenteils Neubauten und Rekonstruktionen ist. Der berühmte Platz um das Rathaus am Romer ist jedoch noch immer eine malerische, kopfsteingepflasterte Angelegenheit, wo alte holzgetäfelte Kneipen obskure lokale Spezialitäten wie Apfelwein und “Handkäse mit Musik” verkaufen. Hier wird Eintracht ihre Siegesfeiern abhalten, wenn sie am Mittwoch gewinnen.

Der Platz um das Rathaus am Romer wird eine Feierparty veranstalten, wenn Eintracht das Europa-League-Finale gewinnt. “Hier wird die Hölle losbrechen, wenn wir gewinnen. Die Stadt wird im Ausnahmezustand sein”, sagt Alex. Er und Jakob werden bis dahin in Sevilla sein, aber der Rest der Stadt wird auf den Straßen sein. Das Rathaus musste neun für Donnerstag geplante Hochzeiten verschieben, um Platz für die Feierlichkeiten zu schaffen. Alex glaubt, dass es die richtige Entscheidung ist. “Man kann jederzeit heiraten. So etwas passiert nur einmal”, sagt er. Investmentbanker und langjähriger Eintracht-Fan Christoph Kind stimmt zu. “Das ist das wichtigste Spiel in der Geschichte des Vereins”, sagt er. Vielleicht verständlicherweise, aufgrund seines Jobs, deutet er auf die finanzielle Seite der Dinge hin. “Mit der Qualifikation für die Champions League beträgt der Unterschied zwischen Sieg und Niederlage etwa 38 Millionen Euro.” Das ist immens für Frankfurt, die in dieser Saison Tabellenelfte der Bundesliga waren und seit drei Jahrzehnten nicht mehr als Titelkandidaten gelten. Doch das ist ein Verein, der sich in letzter Zeit daran gewöhnt hat, riesige Sprünge nach vorne zu machen. Während sie 2018 den Pokal gewannen, hatten sie damals weniger als 60.000 Mitglieder. Zwei märchenhafte Spielzeiten in Europa seitdem haben nur noch mehr Aufsehen erregt, und in diesem Jahr durchbrachen sie die Marke von 100.000. Viele der neuen Fans kommen aus dem Finanzsektor. “Frankfurt war lange Zeit nur ein Transitstop, ein Arbeitsplatz. Am Wochenende war tote Hose und niemand identifizierte sich wirklich mit der Stadt. Das hat sich jetzt geändert, und das liegt zum Teil am Verein”, sagt Kind. Er sagt, es sei kein Zufall, dass Frankfurt in diesem Jahr Zehntausende von Fans zu europäischen Auswärtsspielen gezogen hat. “Man kann sehen, dass die Leute verrückt nach ihrem Verein sind und in der Lage sind, große Mengen an Zeit und Geld aufzubringen, um dieser Leidenschaft nachzugehen.” Auch für eine wohlhabende Stadt war die Vehemenz von Frankfurts europäischer Unterstützung in dieser Saison beeindruckend. Rund 30.000 Fans reisten nach Barcelona zum Viertelfinale, viele von ihnen landeten an einem peinlichen Abend für die Gastgeber im Nou Camp. In London schaffte es eine vergleichsweise kleine Abordnung von 3.000 immer noch, die Heimfans bei West Ham zu übertönen. Die Leistungen auf den Rängen und auf dem Spielfeld haben ihnen in einem Land, das seit Schalkes Sieg im UEFA-Pokal 1997 und den frühen Ausscheiden von Mainz, Freiburg und Hertha Berlin in den letzten Jahren nach europäischem Erfolg hungert, viel Lob eingebracht. “Eintracht sieht sich als europäischen Club und die Stadt sieht sich als das Zentrum Europas. Die EZB hat hier ihren Sitz und das offizielle Vereinslied des Clubs heißt In the heart of Europe”, sagt Kind. Als Chelsea 2019 inmitten der Brexit-Verhandlungen (im Europa-League-Halbfinale) zu Besuch war, spielte der Verein recht deutlich die Ode an die Freude, die Hymne der EU, über die Lautsprecher vor dem Anpfiff. Im gewissen Sinne ist Frankfurt natürlich die deutsche Stadt schlechthin. Es war hier, dass das erste nationale Parlament 1848 geschaffen wurde, wo Schwarz-Rot-Gold die Farben der nationalen Demokratie wurden. Das Stadtwappen trägt immer noch den nationalen Vogel, weshalb Eintracht auch die Adler genannt werden. Ihr Maskottchen, ein Greifvogel namens Attila, durfte diese Woche nicht nach Spanien einreisen. Trotz aller Deutschen ist dies im Grunde genommen auch eine globale Stadt, sagt der Schriftsteller und Aktivist Imran Ayata. Deutsch-türkischer Abstammung, verliebte er sich in Eintracht, als er hier in den 1990er Jahren studierte. Sie waren, sagt er, der erste deutsche Verein, der echten internationalen Flair entwickelte. “Die Stars hatten nicht nur Namen wie Karl-Heinz, es waren Spieler wie Tony Yeboah und Jay-Jay Okocha”, sagt Ayata. “Das passte zu Frankfurt, denn es war schon immer Deutschlands internationalste Stadt.” Als er dort studierte, war sie auch eine der wichtigsten politischen und intellektuellen Zentren Deutschlands. Ayata erinnert sich daran, wie er 1990 an einer linksgerichteten Demonstration gegen die Wiedervereinigung Deutschlands teilnahm, und die Universität selbst war die Heimat des berühmten Instituts für Sozialforschung oder “Frankfurter Schule”, wo Denker wie Theodor Adorno, Max Horkheimer und Jurgen Habermas die Theorien entwickelten, die die deutsche Nachkriegsidentität prägen würden. Als er am Wochenende ins alte Waldstadion ging, um Eintracht anzuschauen, nannten er und seine Mitstudenten der Politikwissenschaft sich scherzhaft die “Adorno Kurve”. Auch heute noch lassen sich die Hardcore-Fans gelegentlich auf ihre städtische akademische Reputation ein und chanten “Randale, Bambule, Frankfurter Schule”. Krawalle, Prügeleien, die Frankfurter Schule. Heutzutage lebt Ayata in Berlin, aber in seiner Stimme schwingt eine Wehmut mit, wenn er über das Spiel am Mittwoch und die Stimmung in seiner früheren Heimatstadt spricht: “Ich war kürzlich in Frankfurt und es war erstaunlich. Jeder ist aufgeregt, jeder steht hinter dem Team. Das ist in Berlin nicht der Fall.” In fast jeder Bar hängen Eintracht-Shirts und Schals an den Wänden und Balken. In den traditionellen Gasthäusern sind die altmodischen Apfelwein-Krüge mit dem Vereinswappen verziert. Eintracht hat bisher nur einmal einen europäischen Titel gewonnen – den UEFA-Pokal 1980. Zweiundvierzig Jahre später ist die gesamte Stadt verzweifelt darauf bedacht, dass sie es erneut tun. In einem Einkaufszentrum mitten in der Stadt am Montagnachmittag zählt die Warteschlange im offiziellen Vereinsladen rund 30 Personen, die alle das zum Finale herausgebrachte Gedenk-T-Shirt kaufen. “Diese Woche ist es besonders extrem, aber seit dem Barcelona-Spiel ist es im Grunde genommen immer so”, sagt der 23-jährige Verkäufer Niko, während er hektisch eine weitere Kiste mit weißen T-Shirts auspackt. “Wir bekommen jeden Tag neue Waren rein, weil alles ausverkauft ist, selbst die 5XL-Shirts. Die Leute kaufen Sachen, obwohl sie nicht passen.” “Ich kann mir nur vorstellen, wie es wird, wenn sie am Mittwoch gewinnen”, fügt er hinzu. Zurück im Bahnhofsviertel glaubt Alex zu wissen. “Wenn die Weltmeisterschaft läuft, ist es verrückt, wenn Deutschland spielt, und es ist verrückt, wenn die Türkei spielt”, sagt er. “Mit Eintracht am Mittwoch wird es sein, als würden beide zusammenkommen.”

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